13.07.2023 | Entlang der A9 herrscht seit der Wendezeit in vielen Betrieben die Wild-West-Mentalität von Arbeitgebern. Wo die IG Metall eine starke Mitgliederzahl hat, handeln wir immer bessere Tarifverträge aus und sind wir auf dem Weg zu Angleichung an das Niveau in Westdeutschland. Betriebe gewerkschaftlich zu erschließen ist die Aufgabe von Christian Hellfritzsch. Im Gespräch mit Horst Martin zieht er nach eineinhalb Jahren eine Zwischenbilanz.
Wie läuft die Erschließung?
Prinzipiell sehr gut: Wir verzeichnen Zulauf von viele Kolleginnen und Kollegen in Betrieben, die wir bisher wenig erreichen konnten. Unsere Schlagkraft bei Tarifkonflikten und die Erfolge bei Abschlüssen sprechen sich herum – und liefern die besten Argumente von selbst. Jüngstes Beispiel ist der Tarifabschluss bei Docter Optics, den auch die Kolleginnen und Kollegen umliegender Betriebe mitbekommen haben.
Wie zeigt sich das?
Menschen treten nicht nur ein, sondern werden auch aktiv. Es geht um Tarifverträge, Geld, Arbeitszeit und Urlaub genauso wie um Betriebsrat, Mitbestimmung und Zukunftssicherung. Unsere Mitglieder sind bereit, sich stärker zu engagieren, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Und sie sind nicht länger bereit, Ungerechtigkeiten im Betrieb und vor allem ein geringes Lohnniveau hinzunehmen.
Wie zeigt sich das konkret in Betrieben?
Ein Beispiel sind die Tarifverhandlungen bei Docter Optics: Dort haben die Kolleginnen und Kollegen beim ersten Warnstreiks seit 14 Jahren mit sehr hoher Beteiligung erfolgreich Druck gemacht. Das Ergebnis (Einmalzahlung, Lohnerhöhung und Mitgliederbonus) kann sich sehen lassen. Den Rückenwind nehmen wir dort in die aktuellen Verhandlungen und andere Betriebe mit.
Wie sieht es mit der BR-Arbeit aus?
Auch hier sind wir in einigen Betrieben dran. Sichtbar ist die Betriebsratsneugründung bei Knoll in Schleiz. Da mussten wir auf eine Übernahme des Betriebes reagieren. Der fünfköpfige BR ist seit Ende 2022 im Amt und arbeitet seitdem zusammen mit der IG Metall an der Lösung der Probleme im Betrieb.
Warum ist Tarif besser als Mindestlohn?
Mindestlohn reicht bestenfalls zum Leben aus. Schon wenn man Kinder hat, ist das zu wenig. Und später fehlt es natürlich bei der Rente. Außerdem bleiben Arbeitszeit und Urlaub beim Mindestlohn außen vor. Gewerkschaften können sehr viel mehr für die Beschäftigten herausholen als es sich die Politik traut: Man muss ja nur die starken Tarifabschlüsse mit Lohnerhöhungen und Inflationsausgleich bei der Fläche und vielen Haustarifen neben die kärgliche Mindestlohnerhöhung weit unter Inflationsniveau legen. Von der Angleichung an die 35-Stunden-Woche des Westens, bei dem einige Betriebe in Thüringen nun mit uns voran gehen, möchte ich gar nicht sprechen. In manchen Betrieben, die ich betreue, geht es darum, unter die 40 Stunden zu kommen.
In vielen Betrieben gehen wir auf einen Generationenwechsel zu. Was bedeutet das für die Gewerkschaftsarbeit?
Ich bin da sehr optimistisch. Die jungen Kolleginnen und Kollegen kennen die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Sie wissen, dass sie gute Karten in der Hand haben und diese über die Gewerkschaften am besten ausspielen können. Immer weniger nehmen Ungerechtigkeiten klaglos hin. Ein guter Tarifvertrag ist genauso im Interesse der Firmen wie ihrer Beschäftigten angesichts des Arbeits- und Fachkräftemangels. Für viele Beschäftigte ist ein Tarifvertrag mittlerweile sogar ein hartes Kriterium bei der Wahl des Arbeitgebers - das stärkt die Position der IG Metall.
Was können Beschäftigte tun, die in ihrem Betrieb "bei Null" anfangen müssen?
Als erstes bei uns melden! Gemeinsam machen wir uns dann auf, Unterstützung bei den Kolleginnen und Kollegen zu generieren. Eine starke IG Metall ist der Anfang von allem. Als Gewerkschaft haben wir besondere Rechte und können etwaigen Gegenwind problemlos aushalten. Es müssen aber nicht zwangsläufig Spannungen mit Arbeitgeber aufkommen. Wichtig ist es, einen guten Plan zu erstellen und abzuarbeiten. Wir als Gewerkschaft haben darin reichlich Erfahrung und Know-How.
Wie lange dauert es, bis sich Erfolg zeigen?
Das hängt sehr stark davon ab, wie viele Beschäftigte in den Firmen in der IG Metall organisiert sind: Je mehr Kolleginnen und Kollegen mitziehen, desto schneller geht es! Bei Knoll lagen zwischen dem ersten Treffen mit den Kollegen und der Betriebsratsgründung nur wenige Wochen. Bei Docter Optics haben wir etwa ein halbes Jahr benötigt, um die Mitgliederzahl so weit zu steigern, dass wir zu einer Tarifauseinandersetzung in der Lage waren.